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„Urban Jungle Fever“ – warum wir alle auf dem Kaktus sitzen wollen

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Plötzlich sah man sie überall. In Magazinen, auf Blogs, als niedliche Illustrationen. Selfies von allen möglichen Freunden, Verwandten und digitalen Bekannten in Tropenhäusern und botanischen Gärten vor grünen Gewächsen. Man sieht sie als Deko im Konzeptstore und neuerdings auch als Superfood auf unserem Teller. Auch in meiner Nachbarschaft. Als ich neulich durch meinen Neuköllner Kiez spazierte und auf jedem zweiten Fensterbrett vor zugezogenen Gardinen ein kleiner grüner Kaktus saß, wurde ich schon fast ein bisschen paranoid. Die neue alte „It“-Pflanze oder etwa das Geheimzeichen irgendeines konspirativen Verbundes? Hat der Kaktus das Einhorn als ultimatives Hipster-Symbol abgelöst? Steht bald auf jedem zweiten T-Shirt statt „unicorn success club“  „go, sit on a cactus“?

Eigentlich sind sie ja schon seit vielen, vielen Jahren fester Bestandteil unserer Wohnungen. Bei meiner Elterngeneration stand der Kaktus in den 70ern als genügsamer Staubfänger neben der Lavalampe im Studentenzimmer. Dann wurde er ein bisschen spießig und führte folglich beim Floristen ein Schattendasein, versteckt hinter den bunten Schnittblumen, die alle Blicke der Kunden in floraler Kauflaune auf sich zogen.

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Innerhalb der letzten zwei, drei, vier oder auch fünf Jahre erlebte der Kaktus allerdings ein schleichendes Revival. Er hat sich gemausert von der pflegeleichten Notstandsblume für alle, die schlicht keinen grünen Daumen aber trotzdem ein bisschen Grün in der Wohnung haben wollen, zum Wunderkind der Interiorszene. Doch warum liegen Kakteen auf einmal wieder so im Trend? Warum stellen sich plötzlich alle Blatt-Feigen- und Korallenkakteen in die Zimmer? Was ist aus den guten Orchideen, Drachenbäumen und Topfrosen geworden?

Vielleicht liegt es daran, dass sich Südamerika als Reiseziel zunehmender Beliebtheit erfreut? Wahrscheinlich stillt das Wüstengewächs unsere Sehnsucht nach Sommer und Sonne, wir wollen gedanklich durch eine Landschaft fernab unserer Klimazone wandern und uns an unsere letzte Reise nach Mexiko erinnern. Der Kaktus ist das Urlaubsmitbringsel, das wir im Blumenladen um die Ecke gekauft haben. Vielleicht sind uns die hiesigen Orchideen, Drachenbäume und Topfrosen zu uncool geworden, zu kitschig, nicht tropisch genug? Vielleicht passt er auch einfach gut zu dem aktuell super trendy Rosé und zu Möbeln in geöltem Mahagoniholz? Aber wahrscheinlich sind Kakteenliebhaber auch einfach auch ein bisschen Planzen-faul, sind die grünen Gewächse doch pflegeleicht, brauchen nicht so viel Wasser und müssen nicht oft gegossen werden, passen also rundum gut in unser hektisches Leben. Außerdem ist ein Kaktus ja auch ein bisschen wie Kunst, er zeugt von gutem Geschmack oder auch vom Gegenteil. Er drückt auf jeden Fall etwas aus.
Kein Kaktus sieht aus wie der andere,  mit seiner ungewöhnlichen Struktur ist er die vielleicht individuellste Pflanze. Entweder wir hängen uns ein modern abstraktes Bild in die Wohnung oder stellen eben einen Kaktus auf. Sie sehen einfach interessant aus mit ihrer architektonisch anmutenden Form.

Doch bei aller Kakteenliebe, auch wenn der „achtsame Generation XYZ-Mensch“ bereits in allen Lebenslagen darauf achtet, nachhaltig zu konsumieren, brav Müllzutrennen und noch braver Bio-Lebensmittel einzukaufen, war mir zumindest gar nicht bewusst, dass jede dritte Kakteenart vom Aussterben bedroht ist. Nicht, dass ich mich unbedingt zum Vorzeigebeispiel des „achtsamen Generation XYZ-Menschens“ zähle, wirklich nicht. Aber Kakteen sind rund um den Globus als Dekorationsobjekt einfach so beliebt, dass sie in großen Mengen in Südamerika illegal gesammelt, um dann im „Westen“, zum Beispiel bei uns aufgeklärten Europäern verkauft zu werden. 86 Prozent der bedrohten Arten, die bei uns im Pflanzenhandel angeboten werden, werden nicht gezüchtet, sondern stammen aus dem Freiland.

Armer Kaktus. Der neue Flamingo. Die Trendpflanze. Hip. Ein Pflanzenstatement. Sollen wir denn jetzt sogar beim Blumeneinkaufen ein schlechtes Gewissen haben? Ich finde nein, aber man kann vielleicht beim nächsten Besuch im Blumenladen einfach mal nachfragen, wo der Kaktus herkommt. Auch auf die Gefahr hin, dass die Antwort dann „vom Großhändler“ lautet. Oder man stellt sich neben eine kleine feine Auswahl an Natura-Kakteen ein paar andere schöne Dingen in Kaktusform aufs Fensterbrett:

 

 

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