inspiriert

From Mumbai with love – Achtsamkeitslektion in Indien

illustration - Indien

10 Oktober. Mein Nacken ist steif, der Geschmack von schlabbrig-würzigem Hähnchen und pappigem Reis liegt mir noch auf der Zunge. Das Handy vibriert: “Sie haben heute eine überfällige Aufgabe: Online Check-In, Flug nach Chatrapati Shivaji International, SwissAir.” Omm, danke automatische Erinnerung meiner App, die mir dabei helfen soll, mein Leben zu organisieren – genervt lasse ich das Handy mit dem blendendem Display zwischen das Swissair Magazin mit Fettflecken und abgeknickten Ecken und die Sicherheitshinweise gleiten. Meinem ersten Impuls folgend drehe ich die in Klarsichtfolien eingeschweißten Sicherheitshinweise um und vergrabe sie anschließend in dem Zeitschriftennetz unter dem Boardmagazin und der Gratis-SZs. Für jemanden mit Flugangst ist es eher semiberuhigend auf die illustrierten Männchen mit Sauerstoffmasken zu starren, vor allem wenn diese aussehen wie die Adobe-Illustratorexperimente eines Grafikstudenten im 1.Semester, Verniedlichung potentiell beängstigender Inhalte, der “böse Clown Effekt”, funktioniert bei mir nicht so gut. Beim Start der Maschine denke ich normalerweise daran, welche Häkchen ich auf der To-Do Liste meines Lebens noch nicht gesetzt habe, und manchmal auch noch daran, mit wie vielen Flug-km diese Reise meine Ökobilanz belastet (Düsseldorf-Zürich-Zürich-Mumbai, gut 7000 km), dann kralle ich mich normalerweise noch ein bisschen fester in die Seitenlehnen oder in den Arm meines Sitznachbarns. Ich atme tief ein und aus, und versuche gedanklich bei der Sache, meinem Reiseziel, zu bleiben: Mumbai. Viel weiß ich nicht über das Land und seine Leute. Meine Reiseplanung beschränkt sich bewusst auf den Kauf eines kostengünstigen Secondhand Indienguides von 2005 (Bei einem Land, das innerhalb kürzester Zeit den Sprung vom Entwicklungsland zum Schwellenland geschafft hat, sei die Aktualität von Informationsquellen, die älter als 2 Jahre sind, mal in Frage gestellt).

Meine Mitreisende sitzt schräg hinter mir und seziert mit vorsichtigem Argwohn und Plastikgabel das Würzhuhn. Wir haben das große Glück in Mumbai bei einer gemeinsamen Freundin zu wohnen, die jetzt schon seit ein paar Jahren in der Millionenstadt lebt, 100% culturally savvy  ist und uns in unserer kulturellen Kurzsichtigkeit hoffentlich vor einigen Fettnäpfchen bewahren wird.

Ich blätter im Reiseführer. In Indien scheint dank des blühendem Kapitalismus fast nichts unmöglich, Regeln sind da, um gebrochen zu werden, vor allem wenn Geld im Spiel ist. Davon profitiert bislang die Ober- und wachsende Mittelschicht. Die Kasten der rasant wachsenden Unterschicht bleiben bislang außen vor. “Alles hier ist eben extrem, entweder man liebt die Gegensätze oder hasst sie”, hör ich Inga noch beim letzten Skypegespräch sagen. Genervt sei sie von den Stereotypen Vorstellungen und dem erhobenen Zeigefinger ihrer deutschen Freunde. Ganz davor gefeit bin ich auch nicht, mein gefährliches Halbwissen wird abgerundet von den gutgemeinten Ratschlägen Bekannter und Verwandter à la „der smarte Indienreisende putzt sich nicht die Zähne mit Leitungswasser, um Magendarm-Grippe bestmöglichst vorzubeugen”, “besprüht die zu 99% mit Hepatitis A-Z infizierten Toilettensitze mit Sagrotan-Spray, berührt dabei auf keinen Fall den Deckel” und „geht unter gar keinen Umständen nachts schwimmen“. Ich blätter zur letzten Seite im Reiseführer mit den zu vermeidenden Kulturfauxpas. Da wird Touristinnen angeraten, nur Frauen nach dem Weg zu fragen, Männern könnten das sonst als Aufforderung zu mehr missverstehen – den Stereotyp des misogynen, potent gefährlichen indischen Mannes hatte ich schon fast verdrängt. Ich steig mit viel Vorfreude aus dem Flugzeug, die auch Deutsche Angst und mangelnde Asienerfahrung nicht dämpfen kann.

Bepackt mit Tragetasche und vier Stücken Handgepäck schreiten wir forschen Schrittes aus dem klimatisierten Flughafengebäude durch die Glastür in die feucht-schwülen 38 Grad. Erschöpft und glücklich umarmen wir unsere Freunde, die uns so entspannt und frisch in der Empfangshalle erwarten, als wären die beiden in dem Tropenklima geboren. Wir schälen uns erstmal aus dem Zwiebellook. Schicht für Schicht werden Winterjacke, die im Flugzeug als Kissen umfunktioniert wurde, Sneakers samt Socken und das Longsleeve wieder in den Backpack-Rucksack gestopft, dann wanken wir unseren Freunden hinterher zu dem Prepaid-Taxi, das schon auf uns wartet. Extrem, so würde ich kurz und knapp meine Gefühle auf der Fahrt in Richtung Navi-Mumbai beschreiben. Das Straßenbild ist extrem geschäftig und hektisch, ich bin mindestens so schlaflos wie in Seattle, vor meinen müden Augen ziehen kastenförmigen Häuser mit Flachdächern vorbei, in denen sich 10qm große Miniaturgeschäfte mit offenen Verkaufsräumen aneinanderreihen – und viele Menschen, wirklich viele Menschen, die auf den ersten Blick nicht viel mehr machen als zu stehen und zu schauen, das Taxi fährt zu schnell, als dass ich Details erkennen kann… „sympathisches Land, das den Müßiggang gesellschaftlich akzeptiert“ – leicht absurde Gedanken eines auf Sparstrom laufenden Hirns im wohligen Halbschlaf… Extrem grell sind auch die Farben, selbst bei Nacht, geblendet von der Straßenbeleuchtung und den Geschäftslichtern hebe ich meinen Kopf, so dass die ersten Stöcke und Dächer der Kastenhäuser jetzt mein Blickfeld ausfüllen. Es rasen im Sekundentakt Billboards vorbei, “dentist, dental care, medical center”, “fashion road” und “style interior” – kastenübergreifend gut gestylt zum doc, oder so. Ich kann offensichtlich nicht mehr klar denken.

Erschöpft sinken wir an diesem Abend in unser Bett, mir schwirrt der Kopf, ich versuche mich auf das regelmäßige Brummen des Ventilators zu konzentrieren, um die wirren Gedanken zu vertreiben. Auch in den nächsten Tagen hält dieser Zustand der Erschöpfung an, so früh im Bett war ich in den Wochen vorher nie. Gut, dass die Millionenstadt Mumbai nicht die Number 1.Destination zum Erholungsurlaub ist, sollte jedem klar sein, der sich einmal bei google images von Downtown M angeguckt hat.

Trotz mentaler und körperlicher Überforderung haben wir eine ziemlich, ziemlich gute Zeit,  in den nächsten Tagen werfe ich so einige Stereotypen über Bord, beklaut, mit Bettelnüssen berotzt, unpässlich angegrabscht oder auf sonst irgendeine Art belästigt wurde ich noch nicht. Auch klären sich einige Mysterien der ersten Tage. Mir wird klar, dass die Überbevölkerung im Land dazu führt, dass eine extreme Aufgabenteilung herrscht, sprich für jede Handbewegung gibt es einen gesonderten Job. Es mag den Anschein erwecken, dass die Menschen nur rumstehen, dabei übernehmen sie wichtige Aufgaben. In einem Eiskaffee, in dem wir die einzigen Kunden sind, gibt es zum Beispiel 4 Angestellte, einen, der kassiert, einen der das Eis portioniert, Einen der putzt und einen der das Ganze überwacht. Wir halten an der Ampel, 2. Spur von 5 Spuren von links, an uns vorbei rauschen Autos, Rikschas, Fahrräder und Fußgänger. Gebannt starre ich auf ein Moped neben uns, vorne sitzt ein Mann, das Kind hinter ihm hat seine Hände entspannt auf seine Schultern gelegt, zwischen ihnen sitzen noch zwei kleine Kinder ohne Helm – auch zur Sicherheit im Straßenverkehr scheinen die Inder eine entspannte Haltung zu haben. In der Rikscha dahinter werden Eierkästen transportiert, eine Ziege steht hinter dem Fahrer. Ich mache mich schon fast darauf gefasst, innerhalb der nächsten 2 Wochen eine Menge Unfälle zu beobachten. Aber de facto höre ich nicht ein einziges Mal auch nur Sirenengeräusche von Polizeiautos.

Am 3. Tag machen wir eine geführte Tour durch den Davarislum, ein bisschen Angst hab ich vor der Reaktion meines Gewissens auf bettelnden Kindern. Da können auch die Beschwichtigungen meiner ortsansässigen Freundin, dass dies ausdrücklich kein Katastrophentourismus sei, nicht helfen. Organisiert werden die Touren durch das größte Slum Asiens von einer NGO mit dem passenden Namen “realitytoursandtravel”. Wir treffen unseren Guide „Sunny“, und 3 andere Europäer an dem Bahnhof Mahim Station. Fotos sind aus Respekt vor der lokalen Bevölkerung verständlicherweise nicht erlaubt. In den folgenden fast 3 Stunden laufen wir durch das Stadtviertel, die Stadt in der Stadt, und bekommen dennoch nur den Hauch eines Eindrucks, wie es sich hier lebt und arbeitet. Wir sehen verschiedenen Stationen des Müllrecyclings, schauen von einem Dach auf die grau-blauen Wellblechdächer des Slums, die mit in die Produktionsketten eingebunden sind. Hier trocknet Wäsche und lagern vorsortierte Plastiksorten zwischen. Wir gehen durch die schmalen Gassen, die Häuser sind dicht an dicht gebaut, Stromkabel baumeln von der Decke. Menschen, die leben und ihrer Arbeit nachgehen. Junge Männer, die 10 Stunden am Tag Schwermetalle einbrennen, ohne Handschuhe und Atemmaske, alte Männer, die Wäsche der Tourismusindustrie aus der ganzen Stadt mit Kohleeisen bügeln, in Waschlaugen stehen, Frauen, die töpfern und Hinduschreine bauen, und das für umgerechnet 150 Dollar im Monat, und spielende Kinder, die durch die Gassen laufen. Die Scham, für die ich mich schon im Vorhinein schämte, stellt sich nicht ein, der Stolz der Menschen ist groß. Alle Gesichter, in die ich schaue, lächeln mich offen an.

Romantisieren sollte man hier allerdings nichts, das Leben im Dharavi-Slum ist hart, die Hygienebedingungen ziemlich schlecht, 1500 Menschen teilen sich eine Toilette. Oft wird man im Slum geboren und bleibt dort oder aber man ist aus den ländlichen Gegenden zugezogen. So wie Sunny, der junge Mann ist Anfang 20, hat ein hübsches Gesicht, spricht fließend Englisch und windet sich mit seinem drahtig schlanken Körper gekonnt durch die schmalen Gassen. Sein schelmisch intensiver Blick ist anders, neben dem Stolz sehe ich einen Anflug von Hohn. So als wäre auch er ein bisschen genervt von den naiven Fragen westlicher Touristen. Wie Sunny betont, sei die Community, der soziale Zusammenhalt im Slum durch nichts zu ersetzen. Andere Werte, anderer Wohlstand. Stufe 3 auf Maslow’s Bedürfnispyramide. Sie machten das Beste aus dem ihnen vorgegebenen Leben, innerhalb der Kaste, in die sie hineingeboren werden, mit der Hoffnung in eine Höhere wiedergeboren zu werden.

Am Ende der Tour holen die beiden Mit-touristen quietschpinke Kuscheltiere und Süßigkeiten aus der Tasche, und drücken sie Sunny in die Hand. Er bedankt sich mit einem leicht zynischen Lächeln. Über einen Euro Trinkgeld hätte er sich wahrscheinlich um einiges mehr gefreut. Nach den 2 Wochen hab auch ich mich von der westlichen, bevormundenden Art distanziert, das Leben von Menschen an unseren Standards zu messen, zu beurteilen und meinen zu wissen, wie sie ihr Leben zu leben haben. Die quietschpinken Hasen landen eventuell am nächsten Tag in der Recyclingkette und werden wiederverkauft, von den Süßigkeiten bekommen die Kinder vielleicht Karies, für dessen illusorische Behandlung dann ein Monatseinkommen von Nöten wäre. Der Ethos der NGO reality gives scheint sinnvoll, im Gegensatz zu teils elitären, bürokratisch organisierten NGOs, die oft an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbeiagieren, versucht sie ein nachhaltiges Schulprojekt aufzubauen.

Sunny erzählt, dass die Stadt Mumbai interessiert sei an dem Wohnraum und versucht, die Hütten zu kaufen, die Slumbewohner wehren sich vehement dagegen, die meisten lehnen die Wohnungen in neu errichteten Wohnblöcken ab. Dharavi ist ihr zu Hause, hier ist ihr Leben, hier arbeiten und feiern sie, zu dem Zeitpunkt unserer Reise ähneln ganze Straßenabschnitte einem Jahrmarkt, geschmückt mit Lichtern und Blumenketten und Holztempeln mit Plastik Durga Pujas, 8-armigen Göttinnen. Stolz und Lebensfreude.

Auf dem Rückflug mit Lufthansa sitze ich beflügelt und entspannt im Flugzeug, keine schwitzigen Hände beim Start und auch das Gewürz-Huhn schmeckt auf einmal ganz gut und originell. Die Stewardess kommt vorbei und verteilt die deutsche Wochenzeitung, “Jetzt ist es Hass” – der Titel anlässlich der jüngsten Pegida-Flüchtlingsdemos springt mir ins Gesicht. Ich öffne dank onboard-wifi seit zwei Wochen zum ersten Mal meinen Mailaccount. Muddi fragt nach einem Lebenszeichen und beschwert sich über Kunden, die maulend Zahnbürsten reklamieren, weil sie nicht zu den Badezimmerkacheln passen. Maslow’s Pyramide wird zu einer deutschen Sanduhr, Stufe 5 Luxusbedürfnisse kompensieren unerfüllte soziale Bedürfnisse. Mit jedem geflogenen km kommen wir anscheinend der deutschen Angst wieder näher – wie war das nochmal mit der Ökobilanz? Ich atme tief durch, schließe meine Augen und konzentriere mich auf Vivaldis vier Jahreszeiten aus dem Bordradio und auf den Geruch von Chili und Kurkuma.

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